Der Song ist ein Ohrwurm: "I'ch biiin schooon alt und weis' und grau." ... "I'ch biiin schooon alt und weis' und grau." Ein jiddischer Gesang mit Klavierbegleitung, eine Endlosschleife, die keine Unterbrechung, keinen wiederkehrenden Anfang zu haben scheint. Zeit, sich aus dem animierten Startmenü zu verabschieden und den Hauptfilm starten zu lassen.
Schon beginnt er, der neue Spielfilm der Coen Brüder Joel & Ethan. Auf Focus Features und Working Title ist Verlass, denken wir uns bei Einblendung der Produktionsstudios, die unterstützen die wirklich tollen Filmprojekte. Noch bleibt die Frage allerdings offen, ob der vorliegende nur der Namen der Regisseure wegen ein toller Film ist. "Nimm in Einfachheit alles hin, was dir widerfährt." Eine Weisheit des Rabbiners Raschi, Herausgeber des Talmud zur Zeit des 11. Jahrhunderts, ist vor schwarzem Hintergrund zu lesen, bevor Schneeflöckchen in verlangsamtem Tempo ins Bild rieseln und... deutsche Untertitel loslegen. Keine Synchronisation? Doch, doch, ein deutscher Dolby Digital 5.1 Ton - in der Blu-ray Variante sogar in DTS-HD 5.1 - wird dem Zuschauer als Alternative zum Original angeboten. Allerdings finden die Dialoge der ersten zehn Minuten konsequent in Jiddisch statt. Ein bärtiger Mann kehrt nach dem Verkauf einiger Gänse in die heimische Holzhütte zur Frau und dem flackernden Ofen zurück. Eine Kutsche hätte er gesehen, die aus Richtung Lwow kam (Wikipedia: Lwow = der russische Name der Stadt Lwiw in der Westukraine). Eine Kutsche mit einem Reisenden: Traitle Groshkover. Pesel Bunims Onkel. Der in Krakau beim Zohar-Rabbi studiert habe. Die Frau des Heimgekehrten weiß sehr wohl, wer Traitle Groshkover ist: er ist seit drei Jahren tot. (Es klopft an der Tür.)
Das ist nur der Anfang einer kurzen Geschichte, die wiederum nur einen losgelösten Prolog der Geschichte von A SERIOUS MAN (USA 2009) ist. Wir beschreiben Ihnen diese Szene, weil sie so immens wichtig für das Verständnis des Films ist. Oder? Joel Coen sagt: Die Geschichte zu Beginn hat absolut keine Bedeutung. Die Art und Weise der Einführung des Protagonisten Larry Gopnik (Michael Stuhlbarg) dagegen schon, das meint Thomas Assheuer in einem Artikel der Zeit: "In dem Spionagethriller BURN AFTER READING, dem vorletzten Film der Brüder Coen, rast das Kamera-Auge aus dem Weltraum auf die Erde zu und pickt sich zielgenau einen kleinen amerikanischen Flecken heraus. Dann mischt es sich für eine Weile unter die Menschen und erzählt eine komische Geschichte über das irdische Treiben. Am Ende des Films verschwindet die Kamera - amüsiert, verwundert, ratlos? - wieder in der Unendlichkeit des Universums. A SERIOUS MAN, der neue Film der Coens, dreht die Perspektive um. Hier richtet der Mensch den Blick nach oben. Er betrachtet den Himmel und hält Ausschau. Vielleicht sucht er etwas, vielleicht auch nicht. Der Himmel ist leer, und die Sonne scheint gleichgültig wie immer. Da oben ist niemand, nur unten auf der Erde gibt es etwas zu sehen. Die teuflisch schöne Nachbarin liegt in der Sonne, splitterfasernackt." (Auszug Kinokritik in: Die Zeit, Feuilleton, 14.01.10)
Dem Himmelsblick und der nackten Versuchung im Vorstadtsiedlungsparadies vorgelagert, geht es jedoch zunächst um Ohren. Die Kamera kommt aus dem Ohr des Gopnik Sohnes Danny (Aaron Wolff), der während des Schulunterrichts mit einem Kopfhörerknopf "Don't you want somebody to love?" von Jefferson Airplane hört. Als nächstes blicken wir mit einem Arzt in das Ohr von Uniprofessor Larry Gopnik. Schnitt: Der Sohn sitzt vor dem Rektor, weil er beim Musikhören erwischt wurde, der Vater sitzt derweil vor einem asiatischen Physikstudenten, der ihn zu einer besseren Notenvergabe drängt. Total skurril und wunderschön ausgestattet, darauf können Sie sich schon mal verlassen! Einen antiquierten Ohrstöpsel sehen wir dort in Detailaufnahme: wir befinden uns im Sommer 1967. Diese Zeitangabe rief übrigens gleich Kritiker in Internetforen auf den Plan, da die Coens wohl nicht bedacht haben, dass die ebenfalls erklingenden Alben "Abraxas" von Santana und "Cosmo's Factor" von Creedence Clearwater erst 1970 erschienen seien. Trotzdem: A SERIOUS MAN ist liebevoll und zeigenössisch akkurat ausgestattet.
Jetzt legen die Coens los, mit dem, was sie am besten können: von durchschnittlichen (schrägen) Menschen in normalen (noch schrägeren) Alltagssituationen erzählen. Ihre Filmfigur Larry Gopnik muss leiden, wie kaum ein Charakter der Coens zuvor - und das will was heißen. Erst der verzweifelte Student, dann der nervige Nachbar und die genervten Kinder daheim. Und schließlich seine Frau Judith Gopnik (großartig wie alle Darsteller: Sari Lennick), die sich mit Larry an den Küchentisch setzt und die Scheidung will. Ein Tag wie jeder andere in der typischen amerikanischen Mittelschicht, nur noch viel schwärzer. Und dann fällt ein Name: Sy Ableman.
(Wer ist Sy Ableman? Weiter auf Seite 2...)